Manuel Gelsen
Zu viel Stress kann schnell überfordern und man fühlt sich ausgebrannt.

Entspannter leben
Stress besser verstehen — aus systemischer Sicht

Stress ist ein all­ge­gen­wär­tiges Phänomen, das oft als indi­vidu­elles Prob­lem dargestellt wird, mit Fokus auf kör­per­liche Symp­tome und per­sön­liche Bewäl­ti­gungsstrate­gien. Doch diese Sichtweise ver­nach­läs­sigt kom­plexe Wech­sel­wirkun­gen von Beziehun­gen und äußeren Ein­flüssen die Stress verur­sachen. Betra­cht­en wir das gesamte Sys­tem.

Beitrag erstellt: 10.7.2024 | Zuletzt modifiziert: 19.9.2024

Stress ist ein all­ge­gen­wär­tiges Phänomen in unserem mod­er­nen Leben und wird oft als ein indi­vidu­elles Prob­lem dargestellt. Wenn wir daran denken, betra­cht­en wir meist kör­per­liche Symp­tome wie Herzk­lopfen, Schlaf­störun­gen oder Kopf­schmerzen und Lösungsmöglichkeit­en. Auch Rat­ge­ber konzen­tri­eren sich häu­fig auf per­sön­liche Bewäl­ti­gungsstrate­gien wie Entspan­nung­stech­niken, Zeit­man­age­ment und Acht­samkeit.

Ich möchte den Wert dieser Per­spek­tive nicht in Frage stellen — es ist gut uns sin­nvoll, sich Symp­tome und Bewäl­ti­gungsstrate­gien anzuschauen. Oft wird jedoch diese Belas­tung als isoliertes Phänomen betra­chtet, das nur den Einzel­nen bet­rifft. Das über­sieht die kom­plex­en Wech­sel­wirkun­gen und Beziehun­gen, die Stress verur­sachen und bee­in­flussen kön­nen.

Aus sys­temis­ch­er Sicht wird Stress nicht isoliert, son­dern im Kon­text des gesamten Sys­tems betra­chtet, in dem eine Per­son lebt und arbeit­et. Dieses Sys­tem umfasst famil­iäre Struk­turen, beru­fliche Umge­bun­gen, soziale Net­zw­erke und kul­turelle Ein­flüsse. Hohe Belas­tun­gen entste­hen und man­i­festieren sich nicht nur inner­halb ein­er Per­son, son­dern auch in den Inter­ak­tio­nen zwis­chen Men­schen und ihren Umge­bun­gen.

Meist wird Stress als alleinige Ursache betra­chtet, auf die wir reagieren müssen. Dabei zeigt oft ein Blick auf das Umfeld, wo das Prob­lem entste­ht.

Systemische Perspektiven auf Stress

Familiäre Strukturen und Stress

Unsere Fam­i­lien spie­len eine zen­trale Rolle in unserem Leben und bee­in­flussen maßge­blich, wie wir Stress erleben und bewälti­gen. Wir übernehmen in großen Teilen von unseren Eltern das Ver­hal­ten, wie wir mit Stress umge­hen.

Famil­iäre Rol­len­verteilun­gen, Erwartun­gen und Kom­mu­nika­tion­s­muster kön­nen auch ein­er­seits Stress verur­sachen, ander­er­seits auch bewälti­gen helfen. Beispiel­sweise kann die Rolle des „Ver­sorg­ers“ in ein­er Fam­i­lie Druck erzeu­gen, während offene Kom­mu­nika­tion und Unter­stützung Belas­tun­gen min­dern kön­nen.

Berufliche Systeme

Auch am Arbeit­splatz sind wir Teil eines Sys­tems. Hier kön­nen Team­dy­namiken, Führungsstile und Arbeits­be­din­gun­gen eine große Belas­tung aus­lösen. Unklare Erwartun­gen oder man­gel­nde Unter­stützung durch Vorge­set­zte sind häu­fige beru­fliche Stres­soren. Gle­ichzeit­ig kön­nen gute Tea­mar­beit und ein unter­stützen­des Arbeit­sum­feld helfen, hohe Belas­tun­gen zu reduzieren.

Wechselwirkungen und Rückkopplungen

Stress ist oft das Ergeb­nis von sich selb­st ver­stärk­enden Kreis­läufen. Wenn wir gestresst sind, reagieren wir möglicher­weise gereizt oder ziehen uns zurück, was wiederum neg­a­tive Reak­tio­nen bei anderen her­vor­ruft und unseren Stress erhöht. Diese zirkulären Muster zu erken­nen, ist der erste Schritt zur Verän­derung. Somit kön­nen wir Rück­kop­plun­gen unterbinden.

Um Stress zu beseit­i­gen, müssen wir erken­nen, was über­haupt die Ursache ist. Wenn wir auch das Umfeld mit betra­cht­en, kön­nen uns weit­ere Stres­soren auf­fall­en, die wir beseit­i­gen kön­nen.

Stress erkennen und reduzieren

Wir gehen nun Schritt für Schritt durch, wie Sie Stress aus Sys­temis­ch­er Sicht erken­nen kön­nen. Hier­für habe ich das grafisch auf­bere­it­et, damit es für Sie leichter ver­ständlich ist. Als aller erstes betra­cht­en Sie sich selb­st.

Ein­mal angenom­men, das sind Sie. Sie sind unzufrieden, da Sie derzeit viel Stress haben. Warum ist für Sie vielle­icht noch nicht direkt greif­bar. Doch keine Sorge: Wir sor­gen gle­ich dafür, dass sich das ändert.

1. Eigene Grenzen erkennen

Damit Sie Stress reduzieren kön­nen, müssen Sie Ihre eige­nen Gren­zen ken­nen. Somit ist das Erken­nen Ihrer eige­nen Gren­zen ein entschei­den­der Schritt zur Stress­be­wäl­ti­gung und zur Verbesserung Ihres per­sön­lichen Wohlbefind­ens. Es geht darum, dass Sie ein klares Bewusst­sein für Ihre eige­nen physis­chen, emo­tionalen und men­tal­en Begren­zun­gen entwick­eln und Ihre Gren­zen respek­tvoll berück­sichti­gen, um Über­las­tung und Stress zu ver­mei­den.

Sie sind noch unzufrieden mit Ihrer Situation - aber kennen zumindest nun Ihre Grenzen.
Sie haben sich Gedanken über Ihre eige­nen Gren­zen gemacht. Also was Ihnen gut tut und was nicht. Und wo die Gren­ze zwis­chen gut und nicht gut ist. Die Gren­ze ist ihr sehr klar dargestellt — in Wirk­lichkeit ist die eigene Gren­ze sit­u­a­tion­s­ab­hängig und mal stark, mal schwach, mal gar nicht da.

2. Stressoren erkennen

Sie ken­nen nun Ihre Gren­zen. Nun gilt es, alle Stres­soren inner­halb und außer­halb Ihrer Gren­zen zu erken­nen. Alle Men­schen und Gegen­stände um uns herum, die uns Energie nehmen, beze­ich­net man als Stres­soren. Das kön­nen sta­tis­che Ele­mente sein wie laute Gegen­stände (wodurch wir mehr Energie investieren müssen, um uns konzen­tri­eren zu kön­nen) oder Men­schen in unser­er Umge­bung.

In der Fam­i­lie kön­nen unaus­ge­sproch­ene Erwartun­gen oder Rol­lenkon­flik­te Stress verur­sachen. Am Arbeit­splatz kön­nen es unklare Ver­ant­wortlichkeit­en oder ein schlecht­es Arbeit­skli­ma sein. Indem wir diese sys­temis­chen Stres­soren iden­ti­fizieren, kön­nen wir gezielte Verän­derun­gen vornehmen.

Sie haben nun Ihre Stres­soren erkan­nt. Das kön­nen eigene Gedanken sein, Men­schen von außen, die Ihnen nicht gut tun oder Gegen­stände, die Ihnen Stress bere­it­en.

3. Ressourcen aktivieren

Um Stres­soren ent­fer­nen zu kön­nen, benöti­gen wir Energie. Dafür benöti­gen wir Zugriff auf unsere Ressourcen. Diese geben uns Energie. Das kann zum Beispiel Unter­stützung durch Fam­i­lie, Fre­unde und Kol­le­gen sein, um Stress zu bewälti­gen. Ein starkes soziales Net­zw­erk und eine gute Kom­mu­nika­tion sind wichtige Ressourcen, die genutzt wer­den soll­ten.

Wir soll­ten also alles tun, was uns gut tut. Dadurch reduziert sich die Menge an Stress und wir haben mehr Energie, dage­gen vorzuge­hen. Klingt total ein­fach und logisch — aber irgend­wie machen wir das oft nicht.

Näch­ste Auf­gabe ist somit: Ressourcen erken­nen und aktivieren.

An den Stres­soren hat sich noch nichts geän­dert: Diese sind noch an der gle­ichen Stelle. Doch wenn Sie auch sehen, was Sie für Ressourcen haben — famil­iäre Unter­stützung, eigene Strate­gien, Gedanken usw. — sieht der Stress weniger bedrohlich aus. Auf ein­mal wird dieser berechen­bar.

4. Einfache Stressoren beseitigen

Nach­dem wir die Stres­soren durch eine sorgfältige Betra­ch­tung unser­er Umge­bung erkan­nt haben, kön­nen wir nun gezielt Maß­nah­men ergreifen, um diese Stress­fak­toren zu beseit­i­gen.

Wir kön­nen die Stres­soren nochmals unterteilen:

  • Stres­soren, die wir beseit­i­gen kön­nen
  • Stres­soren, die wir nicht beseit­i­gen kön­nen

Wir fokussieren uns hier auf die beseit­ig­baren Stres­soren. Hier müssen wir einen Gewis­sen Aufwand betreiben, damit die Stressquelle nicht mehr in unserem Leben auf­taucht. Wenn Ihre Arbeit eine solche Quelle ist, kön­nen Sie diese zum Beispiel wech­seln. Sie sind zu lange am Fernse­her? Sie kön­nen diesen bewusst nur noch sel­ten ver­wen­den. Das heißt nicht, dass die Umstel­lung leicht wird — aber es liegt zumin­d­est alleine in Ihrer Hand.

Bes­timmte Stres­soren in unserem Umfeld kön­nen wir beseit­i­gen. Bei diesen sind wir nicht abhängig zu anderen Per­so­n­en. Wenn diese weg sind, kön­nen wir unsere Bedürfnisse bess­er erfüllen.

5. Komplexe Stressoren umdeuten

Nicht immer kön­nen wir alles kon­trol­lieren, was uns stresst, beson­ders wenn die Stres­soren kom­pliziert oder von außen kom­men. Aber wir kön­nen unsere Sichtweise auf diese Stres­soren ändern, um bess­er damit umzuge­hen. Das bedeutet, wir ver­suchen, eine andere Per­spek­tive auf die belas­tende Sit­u­a­tion einzunehmen, um den Stress zu reduzieren.

Anstatt sie als großes, unlös­bares Prob­lem zu sehen, kön­nen wir ver­suchen, die Sit­u­a­tion eher als Her­aus­forderung zu sehen. Somit sehen wir neue Möglichkeit­en, etwas Neues zu ler­nen oder zu wach­sen und kön­nen so den Stress bess­er bewälti­gen.

Angenom­men, Sie müssen ein schwieriges Pro­jekt leit­en, das viele Prob­leme mit sich bringt und Sie sehr stresst. Anstatt zu denken, dass das Pro­jekt nur eine Belas­tung ist, kön­nen Sie ver­suchen, es als Chance zu sehen, neue Fähigkeit­en zu ler­nen und Erfahrun­gen zu sam­meln.

Sie kön­nten so auch das große Pro­jekt in kleinere, leichter zu bewälti­gende Auf­gaben aufteilen und sich auf die Fortschritte konzen­tri­eren, die Sie machen. Diese neue Sichtweise hil­ft Ihnen, die Sit­u­a­tion weniger über­wälti­gend zu find­en und gibt Ihnen ein Gefühl der Kon­trolle.

Manche Stres­soren kön­nen wir nicht beseit­i­gen — aber wir kön­nen diese umdeuten, damit diese uns nicht mehr so viel Energie ziehen. Für uns nervige Men­schen nehmen uns auf ein­mal weniger Energie, wenn wir den Sinn deren Han­delns erken­nen.

Stress zu reduzieren ist keine ein­ma­lige Sache, son­dern ein laufend­er Prozess. Es braucht Zeit und regelmäßige Anstren­gun­gen, um Stress wirk­lich zu ver­ringern. Wir müssen immer wieder unsere Meth­o­d­en zur Stress­be­wäl­ti­gung anpassen, je nach­dem, wie sich unsere Sit­u­a­tion ändert. Fortschritte passieren oft langsam und nicht sofort. Geduld und Selb­st­für­sorge sind wichtig, um kon­tinuier­lich bess­er mit Stress umzuge­hen und langfristige Erle­ichterung zu find­en. Aber sobald Sie das ein­mal akzep­tiert haben und diese Mech­a­nis­men dahin­ter ver­ste­hen, wird Ihnen Stress bewälti­gen leichter fall­en.

Fazit

Stress­be­wäl­ti­gung ist ein kon­tinuier­lich­er Prozess, der uns Geduld und regelmäßige Anpas­sun­gen ein­fordert. Um Stress effek­tiv zu reduzieren müssen wir unsere eige­nen Gren­zen erken­nen und kom­plexe Stres­soren zu beseit­i­gen. Da wir nicht alle Stress­fak­toren voll­ständig kon­trol­lieren kön­nen, liegt jedoch auch ein großer Teil der Bewäl­ti­gung in der Verän­derung unser­er Per­spek­tive und der geziel­ten Anpas­sung unser­er Strate­gien.

Wenn wir diesen Prozess dauer­haft ver­fol­gen, kön­nen wir langfristig eine bessere Bal­ance und ein höheres Wohlbefind­en erre­ichen. Eine kon­tinuier­liche und bewusste Stress­be­wäl­ti­gung hil­ft uns nicht nur, akuten Stress abzubauen, son­dern stärkt auch unsere Resilienz gegenüber zukün­fti­gen Her­aus­forderun­gen. Zudem fördert es unsere all­ge­meine Leben­squal­ität, indem es uns ermöglicht, gesün­der, pro­duk­tiv­er und zufrieden­er zu leben.

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Bitte beachten Sie, dass die Beiträge nur meine Sichtweise wiederspiegeln und ich keine Wissenschaftliche Korrektheit garantieren kann.
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Ich bin Systemischer Berater, mit (noch nicht abgeschlossener) Weiterbildung zum Systemischen Familientherapeuten. Ich bin nicht als Psychologischer Psychotherapeut, Arzt oder Psychiater ausgebildet.
Deshalb stehen in meinen Beratungen keine psychischen Krankheiten im Fokus. Ich betrachte Sie als Mensch, bei dem Krankheiten zwar vorkommen und Auswirkungen haben können, aber Ihr Leben ist mehr als nur Ihre Krankheit. Ihre Gefühle, Familie, Freunde, Umgebung, Bewältigungsstrategien, etc. – all das wirkt sich auf Sie aus. Der Fokus liegt also auf Ihnen als Ganzes und nicht nur auf einem bestimmten Aspekt Ihres Lebens.

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