Was bedeutet systemisch?
Viele können sich unter dem Begriff systemisch nicht viel vorstellen. “Ist das etwas mit Systemen?” Hier werden die Grundlagen vermittelt, damit Sie am Ende einen guten Überblick haben.
Im Systemischen betrachten wir nicht nur eine einzelene Person oder ein konkretes Problem, sondern auch das gesamte Umfeld, in dem es sich bewegt. Anstatt also die Ursache eines Problems isoliert zu betrachten, wird untersucht, wie Beziehungen, Verhaltensmuster und Dynamiken innerhalb des sozialen oder beruflichen Systems miteinander verwoben sind. Das bringt interessante Einblicke.
Warum werden Systeme betrachtet und nicht Ursachen und Auswirkungen?
Wir möchten Probleme gerne linear betrachten – nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung, denn das ist vergleichsweise einfach. In technischen Systemen funktioniert das oft auch sehr gut.

Wenn wir einen Herd einschalten (Ursache), wird das Wasser wärmer und fängt irgendwann an zu kochen (Auswirkung). Wenn irgend etwas nicht funktioniert, müssen wir jedes Element in dieser Kette validieren und schauen, ob dieses funktioniert. Beim Beispiel des Wasserkochens, ob 1. der Strom vorhanden ist, 2. der Herd eingeschaltet ist, 3. der Herd funktioniert und 4. die richtige Herdplatte eingeschaltet ist. Oft ist die Bestimmung der Ursachen und Auswirkungen komplexer, aber trotzdem sind diese begrenzt. Das macht das kontrollierte Verändern des Systems vergleichsweise leicht, da die Auswirkungen berechenbar sind.

Es scheint naheliegend, diese Logik der Ursache und Wikung auf Menschliche Verhaltensweisen zu übertragen. “Mensch X ist stark auffällig, er hat eine “Störung”. Auf diese Ursache können wir Medikamente geben, um die Krankheit abzumildern oder zu beseitigen.” .
Der Gedanke von Ursache und Wirkung ist schön, nur leider oft nicht zielführend. In menschlichen Systemen funktioniert das selten so einfach. Was ist die eigentliche Ursache? In einem sozialen System beeinflusst jeder jeden, und Verhaltensweisen entstehen durch komplexe Wechselwirkungen. Denn jede Aktion, die wir tun, wirkt sich auf unsere Mitmenschen aus und bestimmen somit die Dynamik, die eintreten wird. Wenn sich zwei Personen streiten — was ist dann die Ursache?
Eine einzelne Ursache herauszugreifen wird der Dynamik des gesamten Systems nicht gerecht. Daher ist es sinnvoller, das gesamte System im Blick zu behalten – die verschiedenen Beziehungen, Kommunikationsmuster und Rückkopplungsschleifen zu betrachten. Nur so können wir verstehen, wie sich die Teile gegenseitig beeinflussen und wie nachhaltige Veränderungen möglich werden.
Warum kann das Prinzip von Ursache/Wirkung nicht auf Menschen angewendet werden?
Menschen sind Teil von komplexen Systemen, wie Familien, Freundeskreisen oder Teams. In diesen Systemen beeinflussen sich alle ständig gegenseitig. Es ist nicht so einfach wie „A passiert und dann folgt B“, weil viele Dinge gleichzeitig wirken und sich gegenseitig verstärken oder verändern. Deshalb funktioniert das einfache Ursache-Wirkung-Prinzip bei Menschen nicht gut.
Wenn jemand auf eine bestimmte Weise handelt, reagiert das Umfeld darauf, und das führt wieder zu einer neuen Reaktion. So entsteht ein ständiges Hin und Her. Statt nur eine Ursache für ein Problem zu suchen, ist es wichtig, das ganze System zu betrachten, um zu verstehen, wie alles zusammenhängt.

Wie wir handeln ist auch stark abhängig von unseren Vorerfahrungen. Diese beeinflussen unser jetziges Handeln, dieses wiederum beeinflusst wie wir uns in Zukunft entscheiden werden.

Kybernetik - die Theorie hinter Rückkopplungen
Die allgemeinen Kybernetik ist die Theorie hinter den grundlegenden Strukturen und Funktionen von Regelungssystemen. Sie beschreibt die Steuerung und Regelung der Systeme durch Rückkopplungsschleifen.
In sozialen Systemen bedeutet das: Jedes Verhalten hat eine Wirkung, die auf das System zurückwirkt und das nächste Verhalten beeinflusst. Es entsteht eine zirkuläre Dynamik, bei der Ursache und Wirkung nicht klar zu trennen sind.
Menschliche Systeme — die Grundlage von allem
Ein System ist eine Gruppe von Elementen, die in einer bestimmten Beziehung zueinanderstehen und sich gegenseitig beeinflussen. Das klingt zunächst abstrakt, aber solche Systeme begegnen uns jeden Tag – in der Familie, in Freundeskreisen, am Arbeitsplatz oder in der Gesellschaft. Wir selbst sind auch Teil mehrerer Systeme gleichzeitig.

Familien sind ein gutes Beispiel. Jedes Mitglied dieser Familie beeinflusst das Verhalten der anderen. Wenn ein Kind anfängt, sich in der Schule schlecht zu benehmen, könnte das eine Reaktion auf Spannungen zu Hause sein. Vielleicht gibt es einen Konflikt zwischen den Eltern, der unbewusst das Verhalten des Kindes prägt. Das Verhalten des Kindes wiederum verstärkt die Anspannung in der Familie, und so entsteht ein Kreislauf. Oft sehen Eltern dann nur das Verhalten des Kindes und schicken es zum Arzt oder anderen Einrichtungen und wollen die Symptome (hier das schlechte Benehmen) behandeln — das funktioniert nur so nicht. Die Eltern sind auch Teil der Ursache (und auch der Lösung), Das sehen wir jedoch nur, wenn sie ihr Familiensystem als Ganzes betrachten.
Ein weiteres Beispiel ist die Schule. Wenn ein Schüler oft stört, liegt es möglicherweise nicht nur an ihm selbst. Vielleicht sind die Lehrer überfordert, die Klasse zu groß, oder es gibt Dynamiken unter den Schülern, die den Druck auf diesen einzelnen Schüler erhöhen. Wenn man das ganze System betrachtet, wird deutlich, dass es nicht um das isolierte Verhalten des Schülers geht, sondern um ein Zusammenspiel von vielen Faktoren. Um wirklich etwas zu verändern, muss man an mehreren Stellen des Systems ansetzen.
Wir betrachten also nicht nur die Symptome oder das Verhalten einer einzelnen Person, sondern die Bedingungen, die dieses Verhalten hervorrufen. Was sind die ungeschriebenen Regeln in diesem System? Wie verhalten sich die anderen Beteiligten? Und welche Kreisläufe entstehen dabei?
Diese Bedingungen eines Systems sind ziemlich entscheidend. Jede Gruppe oder Beziehung entwickelt eigene Regeln, Erwartungen und Rollen. Diese sind oft unausgesprochen, aber sie bestimmen, wie wir uns in einem bestimmten Kontext verhalten. In einer Familie kann zum Beispiel die unausgesprochene Regel existieren, dass man Konflikte vermeidet. Das führt dazu, dass Spannungen unterschwellig bestehen bleiben und sich dann in anderen Bereichen, wie dem Verhalten der Kinder, zeigen. Wären die Regeln anders, wären auch die Verhaltensweisen anders.
Was also das systemische Denken ausmacht, ist die Idee, dass alles miteinander verbunden ist. Es geht nicht darum, wer „Schuld“ an einem Problem hat, sondern wie das Problem Teil eines größeren Ganzen ist.
Konstruktivismus — jeder hat irgendwie recht
Jetzt kommt jedoch eine Frage auf: Wie werden diese Systeme bewertet? Was ist gut und was ist schlecht? Und wenn unterschiedliche Meinungen dazu existieren: Wer hat recht? Die Mitglieder des Systems, eine außenstehende Person, jemand ganz anders? Was ich schon mal sagen kann: wenn 100 Personen gefragt, wer Schuld an den Problemen ist, werden 100 unterschiedliche Antworten herauskommen. Das macht ein besseres Verständnis nicht gerade leicht.… Welche der Antworten sind jetzt davon wahr?
Hier kommt der Konstruktivismus ins Spiel, eine wesentliche Grundlage des systemischen Denkens. Der Konstruktivismus besagt, dass es keine „objektive“ Wahrheit gibt, wenn wir ein System betrachten. Wir alle konstruieren unsere eigene Wirklichkeit – basierend auf unseren Erfahrungen, Überzeugungen und Emotionen. Es gibt also keine „eine wahre“ Sichtweise auf ein System. Jeder Mensch in einem System – ob in der Familie, im Team oder in der Gesellschaft – hat seine eigene, individuelle Interpretation der Situation.

Ein einfaches Beispiel: Zwei Geschwister erleben dieselbe Familie und dieselben Eltern, aber sie haben völlig unterschiedliche Erinnerungen und Wahrnehmungen. Was für das eine Geschwisterkind als liebevolle Unterstützung erscheint, kann das andere als Einmischung wahrnehmen. Beide Sichtweisen sind in ihrem jeweiligen Kontext „wahr“, aber sie zeigen uns, dass ein System niemals nur auf eine Art verstanden werden kann. Jeder von uns sieht die Welt durch seine eigene Brille, und diese Brille ist durch persönliche Erfahrungen, Glaubenssätze und Emotionen gefärbt.
Im Beruf erleben wir das, z.B. in Teams, bei denen die Zusammenarbeit schlecht läuft. Der Chef könnte die Ursache darin sehen, dass einzelne Mitarbeiter ihre Aufgaben nicht richtig erfüllen. Ein Mitarbeiter hingegen könnte den Druck und die schlechten Kommunikationsstrukturen als Problem empfinden. Beide haben unterschiedliche Interpretationen des Systems, aber beide Wahrnehmungen beeinflussen das Gesamtbild und die Dynamik des Teams.
Das A und O - ein neutraler Blick
Jede Person mit ihrer Wahrnehmung recht hat. “Aber mein Partner ist so ein Chaot, er bekommt nichts auf die Reihe. Immer muss man deswegen alles selber machen.”. Das ist eine berechtigte Perspektive, jedoch helfen uns Vorverurteilungen nicht, eine Situation besser zu überblicken. Diese machen eher das Gegenteil: Sie ersparen es uns, eine Situation genauer anzuschauen, da wir mit einer einfachen These eine vermeintliche Wahrheit gefunden haben.
Oberstes Gebot: Wir schauen neutral auf die Situation und beschreiben nur, was wir sehen / was gerade passiert. Genauso können wir auf unsere Gefühle eingehen, die wir in der Situation gerade wahrnehmen. So bleiben wir bei uns und vermeiden Bewertungen der anderen Person.
Eigene Position beziehen — mit Hypothesen
Wir suchen nicht nach der „einen richtigen“ Antwort. Stattdessen versuchen wir, die verschiedenen Perspektiven zu verstehen und sie als gleichwertige Teile des Systems zu akzeptieren. Es gibt keine objektive Wahrheit, die uns sagt, wie ein System funktioniert – nur verschiedene Interpretationen, die alle wertvoll sind.
Das heißt nicht, keine Ahnnahmen mehr zu treffen. Das dürfen wir — jedoch in Form von Hypothesen. Das heißt, wir können eine These aufstellen und diese gilt solange als bestätigt, bis wir einen Widerspruch gefunden haben. Dann stellen wir eine neue Hypothese auf, bei der alles zutrifft. Wir klammern uns niemals an einer Hypothese und versuchen somit auch nie, die Realität so umzubiegen, dass die Hypothese doch zutrifft.
Systemebenen
Es gibt verschiedenen Ebenen, die in der systemischen Arbeit besonders relevant sind, hier etwas vereinfacht: die menschlichen Systeme, generationsübergreifenden Systeme und die inneren Teile.
Menschliche Systeme
Das sind die Systeme, in denen wir aktuell leben. Unsere Familien, Freundeskreise, Arbeitsgruppen – all das sind soziale Systeme, in denen wir interagieren. Sie sind dynamisch und verändern sich ständig. Ein Beispiel wäre eine Gruppe von Freunden, in der sich die Dynamik ändert, wenn ein neuer Freund hinzukommt. Plötzlich könnte sich die Rolle jedes Einzelnen verschieben, und das Verhalten innerhalb der Gruppe verändert sich.
Generationsübergreifende Systeme
Hier betrachten wir nicht nur die aktuellen Beziehungen, sondern auch die Verbindungen zu unseren Vorfahren, etwa Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern. Diese Verbindungen prägen uns oft tief, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Nehmen wir an, jemand in deiner Familie hat große finanzielle Schwierigkeiten durchgemacht. Diese Erfahrung kann über Generationen hinweg Auswirkungen darauf haben, wie in deiner Familie über Geld gesprochen oder mit Unsicherheiten umgegangen wird – auch wenn die ursprünglichen Ereignisse längst vorbei sind.
Innere Teile
Die Inneren Teile tragen wir in verschiedenen Anteilen in uns – unsere Emotionen, Überzeugungen, Glaubenssätze. Diese inneren Teile formen unser Verhalten und prägen, wie wir auf äußere Systeme reagieren. Wenn wir zum Beispiel innere Glaubenssätze haben, dass wir nicht gut genug sind, kann das unser Verhalten in sozialen Systemen stark beeinflussen. Wir könnten uns zurückziehen oder versuchen, es allen recht zu machen, um Anerkennung zu finden. Hier sehen wir also, wie auch unsere inneren Systeme mit den äußeren in Wechselwirkung stehen.
Wenn wir also etwas systemisch betrachten, schauen wir uns nicht nur die sichtbaren Verhaltensweisen an. Wir betrachten auch die Bedingungen der Systeme, die diese Verhaltensweisen beeinflussen, und die individuellen Perspektiven der Beteiligten.

Grenzen
Der Übergang von System zu Umwelt ist durch Grenzen definiert. Sie geben uns einerseits Sicherheit und Stabilität nach außen, andererseits können uns diese im Wege stehen, so dass wir diese los haben wollen. Eine Grenze zwischen System und Umwelt, die zwei Personen unterschiedlich sehen, ist fast ein Garant für Konflikte — vor allem, wenn Person A mehr Grenze will, Person B jedoch weniger.
Grenzen sichtbar machen
Ein großer Teil der Arbeit im Systemischen ist deshalb das Herausfinden, wo eine Grenze liegt und wie jeder zu dieser steht. Manchmal entdeckt man dabei, dass bei manchen auf einmal innerhalb der Grenze Personen sind, die gar nicht hineingehören (z.B. der Schwiegervater, der zwar nicht da wohnt, trotzdem eine zu große Rolle einnimmt) oder auch Personen ausschließt, die dazugehören möchten.
Hinweis: Wie alles im Systemischen, sind auch die Grenzen konstruktivistisch, d.h. das Konstruckt jeder einzelnen Person. Jede Person kann das anders sehen und es gibt nicht DIE wahre, korrekte Grenze.
Zusammenfassung
Alles ist miteinander verbunden. Das Verhalten eines Einzelnen hat immer Auswirkungen auf das gesamte System, und das System wiederum beeinflusst das Verhalten des Einzelnen. Es geht also nicht um lineare Ursache-Wirkungs-Beziehungen, sondern um Kreisläufe und Rückkopplungsschleifen. Ein kleines Systemisches Denken ist ein mächtiges Werkzeug, um die komplexen Zusammenhänge in menschlichen Beziehungen und Strukturen zu verstehen. Es lädt uns ein, die Welt nicht in Schwarz und Weiß zu sehen, sondern die vielen verschiedenen Perspektiven zu akzeptieren, die ein System ausmachen.
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