Hast du dir schon mal Gedanken gemacht, was du gut kannst — und was nicht so gut? Oder anders ausgedrückt: Kennst du deine Stärken und Schwächen?
Genau genommen ist auch eine verdammt komplexe Frage, die man nicht mit 1x nachdenken beantworten kann.
Vielleicht warst du auch schon mal in einem Vorstellungsgespräch, warst nervös und wirst auch dann noch gefragt: “Was sind deine Stärken?”, bzw. “Was sind deine Schwächen?”. Du sitzt da, atmest einmal durch – und fängst an zu überlegen, wie du dich jetzt am besten verkaufst.
Es gibt viele Karriereratgeber, die haben auf diese komplexe Frage einfache und stupide Antworten, „Du sollst du etwas nennen, das gut klingt, aber nicht überheblich. Eine Schwäche, die eigentlich auch eine Stärke ist. Vielleicht sowas wie: „Ich bin manchmal zu perfektionistisch.”“.
Danke für diese oberflächlichen, aus meiner Sicht extrem dummen Tipps. Das braucht die Welt… nicht. Eventuell reicht das sogar in bestimmten Situationen aus — wenn wir uns jedoch gut und nachhaltig mit dem Thema auseinandersetzen wollen, müssen wir uns schon mehr tun.
In diesem Beitrag nehme ich Stärken und Schwächen auseinander und zeige euch, dass das Thema wesentlich komplexer- aber auch interessanter — ist. Macht euch bereit.
IST-Stand: Wie wir Stärken- und Schwächen sehen
Es gibt oft klare Vorstellungen davon, was positiv und was negativ bewertet wird. “Empathisch sein” ist positiv, das braucht die Welt mehr. Mut ist gut, genauso wie Kreativität. Und Ungeduld ist eine Schwäche, genauso wie Unpünktlichkeit. Hier hören die Gedanken oft auf.
Wenn wir hinterfragen, warum das so ist, kommen uns schnell Gedanken wie “Das ist halt so”. Eventuell finden wir noch ein Beispiel, in dem wir zeigen können, dass es wirklich stimmt. “Klar ist Mut was positives, ansonsten würden wir uns ja nix trauen.”
Das stimmt auch… ist nur leider immer noch nicht zu Ende gedacht. Wenn wir von Stärken und Schwächen sprechen, tun wir oft so, als wären das objektive Eigenschaften. Als gäbe es eine Art universelle Skala, auf der sich Menschen einordnen lassen: Hier stark, dort schwach. Aber wer entscheidet eigentlich, was als Stärke gilt – und was als Schwäche?
Die unmögliche Definition, was stark und schwach ist
Wenn wir von Stärken und Schwächen sprechen, tun wir oft so, als wären das objektive Eigenschaften. Als gäbe es eine Art universelle Skala, auf der sich Menschen einordnen lassen: Hier stark, dort schwach.
Aber wer hat das eigentlich entschieden, was stark ist – und was schwach? Die Antwort ist einfach: Wir Menschen. Gesellschaften, Kulturen, Teams, Führungskräfte, Freundeskreise. Wir alle setzen Maßstäbe dafür, was erwünscht ist – und was nicht.
In einem Umfeld, das Durchsetzungsvermögen feiert, gilt Rücksichtnahme schnell als zögerlich. In einem anderen Kontext, in dem auf Augenhöhe kommuniziert wird, kann genau dieselbe Eigenschaft als große soziale Stärke gelten.
Das heißt: Jeder Mensch hat eine unterschiedliche Definition, was als stark gilt und was als schwach. Und für uns gilt der Konstruktivismus: Es gibt keine absolute Wahrheit, sondern jeder nimmt seine Umgebung unterschiedlich waher…
Eine Skala sagt mehr als 1000 einfache Eigenschaften
Mit einer Definition, welche Eigenschaften nur in positiv oder negativ / schwarz oder weiß einteilt, können wir uns viele Dinge in der Realität nicht erklären. Wenn Teamfähigkeit eine Stärke ist und jemand super mit anderen Menschen arbeiten kann, allerdings keine 5 Minuten alleine und deshalb immer Kontakt zu anderen braucht — ist das dann noch eine Stärke?
Es hilft es oft mehr, sich Eigenschaften als Skalen vorzustellen. Auf einer Seite liegt eine Ausprägung – auf der anderen ihr Gegenpol. Dazwischen: viele feine Abstufungen. Und genau da, irgendwo im beweglichen Mittelbereich, spielt sich das meiste ab.

Zum Beispiel:
Auf der einen Seite der Skala steht „völlig chaotisch“, auf der anderen „höchst diszipliniert“.
Du selbst bewegst dich irgendwo dazwischen – vielleicht bei –3 oder +5.
Diese Position ist weder gut noch schlecht. Sie ist einfach deine persönliche Ausprägung und hat auf dich unterschiedliche Auswirkungen.

Framing: Gleiche Eigenschaft, andere Begriffe — andere Wirkung
Je nachdem, welche Begriffe wir für die Eigenschaft verwenden, beeinflusst das unsere Wahrnehmung. Wir können ein Synonym für die gleiche Eigenschaft verwenden und schon ist die Wahrnehmung viel positiver oder negativer.
Nennen wir auf einer Skala für Introvertiert vs. Extrovertiert das eine Ende „zurückhaltend“ und das andere „offen“, klingt es neutral.
Tauschen wir dieselbe Skala aber gegen „verschlossen“ und „aufdringlich“ aus, wirkt die gleiche Eigenschaft plötzlich negativ.
Die Skala bleibt identisch – nur die Bewertung verändert sich.
Wir reden oft nicht nur über Eigenschaften, sondern gleichzeitig darüber, wie wir sie finden. Und genau das macht die Arbeit und den Austausch damit so schwierig.

Hier ist eine Auflistung an Begriffen für “Ordnung”, welche unterschiedlichen Begriffe für diese Eigenschaft je nach intensität verwendet werden kann. Die Tabelle stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit — sie zeigt nur, dass über ein und das selbe komplett unterschiedlich gesprochen werden kann.
Skalenwert | Neutrale Beschreibung | Positiv gedeutet | Negativ gedeutet |
---|---|---|---|
–10 | völlig ungeordnet | kreativ-chaotisch | planlos, unzuverlässig |
-7 | Locker im Umgang mit Strukturen | flexibel, spontan | unorganisiert, schlampig |
-3 | eher nachlässig | unkompliziert | vergesslich, inkonsequent |
0 | mittlere Ordnung | anpassungsfähig | unentschlossen, beliebig |
+3 | eher struktuiert | organisiert, fokussiert | unflexibel |
+7 | sehr strukturiert | zuverlässig, effizient | kontrollierend, pedantisch |
+10 | extrem Ordnungsbetont | diszipliniert, gewissenhaft | zwanghaft, perfektionistisch |
Entgegengesetzte Eigenschaften — Warum du nicht in allem gleichzeitig gut sein kannst
Manche Eigenschaften stehen in einem direkten Spannungsverhältnis zueinander.
Sie bilden gegenläufige Pole, bei denen eine starke Ausprägung auf der einen Seite meist automatisch bedeutet, dass die andere Seite weniger stark ausgeprägt ist. Wenn also die eine Seite deine große Stärke ist, ist sie gleichzeitig die große Schwäche der anderen Seite.
Ein klassisches Beispiel: Kreativität und Ordnung.
Menschen, die extrem kreativ sind, denken oft vernetzt, sprunghaft, quer. Sie bringen neue Ideen hervor, brechen Muster auf.
Ordnung, also das Bestehen auf Strukturen und Abläufe, fällt dabei schwer. Zu viel davon bremst den kreativen Fluss.
Umgekehrt gilt:
Wer sehr ordentlich, strukturiert und systematisch denkt, hat oft weniger Raum für wilde Gedankensprünge, unkonventionelle Umwege oder das kreative Chaos.
Beides gleichzeitig extrem stark zu leben, ist kaum möglich – denn das eine steht dem anderen im Weg.

Diese Dynamik gilt für viele Eigenschafts-Paare, zum Beispiel:
- Spontanität ↔ Planung
- Risikofreude ↔ Sicherheitsdenken
- Empathie ↔ Abgrenzung
- Analytisches Denken ↔ Intuition
- Durchsetzungsstärke ↔ Kompromissfähigkeit
Das bedeutet nicht, dass du nur das eine oder das andere sein darfst. Aber:
Wenn du in einer Eigenschaft sehr stark bist, bist du vermutlich in ihrem Gegenpol weniger stark – und das ist völlig normal.
Wichtig ist nicht, überall Spitzenwerte zu erreichen, sondern zu wissen, wo du verlässlich stehst – und wo du vielleicht bewusst ausgleichen möchtest.
Skalierbare Fähigkeiten — Zusammenfassung
- Stärke und Schwäche sind keine festen Eigenschaften, sondern bewegliche Punkte auf einer Linie.
- Ob etwas als positiv oder negativ gilt, hängt oft nur davon ab, wie wir es benennen und worauf wir gerade schauen.
- Und das wiederum ist stark abhängig vom Kontext, vom Umfeld – und davon, wie gut du dich selbst einordnen kannst.
Das richtige Maß — die Dosis macht die Stärke aus
Eigenschaften wirken nicht nur in die eine oder andere Richtung. Es gibt fast immer ein Zuviel und ein Zuwenig – und irgendwo dazwischen liegt der Bereich, in dem die Eigenschaft als Stärke erlebt wird.
Dieses “zu viel” und “zu wenig” befindet sich an den Enden der Skala. Ab welchem Wert das eintritt, ist unterschiedlich und abhängig vom Kontext. Außerdem gilt auch da der Konstruktivismus, also dass es keine absolute Wahrheit dazu gibt.

Ist die Eigenschaft zu weit unten, fehlt oft die Kraft oder Klarheit der Eigenschaft. Ist er zu weit oben, kippt sie schnell ins Übermaß.
Was in der richtigen Dosis hilfreich ist, kann zu viel schnell überwältigend oder anstrengend werden – und zu wenig unsichtbar oder wirkungslos.
Diese Mitte, dieses gesunde Maß, ist dabei keine feste Zahl. Es hängt davon ab, wer du bist, was du brauchst – und in welchem Umfeld du dich bewegst.
Was in einer Situation genau richtig ist, kann in einer anderen zu viel sein. Oder zu wenig.
Es geht also nicht darum, eine Eigenschaft maximal auszureizen, sondern ein Gespür dafür zu entwickeln, wie viel davon gerade passt.
Der Kontext macht den Unterschied
Jetzt sind Eigenschaften schon so unterschiedlich — eine wichtige Sache haben wir noch nicht berücksichtigt: den Kontext. Es ist ein riesiger Unterschied, ob du gerade in einem Bewerbungsgespräch sitzt, ein Projekt leitest, dich mit Freunden unterhältst oder mit Kindern arbeitest. Was dort jeweils als Stärke gesehen wird, kann ganz unterschiedlich sein.
Welche Kontexte gibt es?
Kontext ist mehr als nur „die Umgebung“ – er umfasst verschiedene Ebenen, die alle Einfluss darauf haben, wie eine Eigenschaft wirkt und bewertet wird. Hier ein paar Beispiele:
- Zeitlicher Kontext: Wann findet etwas statt? Morgens vor dem ersten Kaffee ist deine Konzentration vielleicht anders als am Nachmittag. Auch Lebensphasen, Jahreszeiten oder berufliche Zyklen spielen eine Rolle.
- Räumlicher Kontext: Wo befindest du dich? Eine ruhige Bibliothek ermöglicht andere Stärken als ein lauter Großraumbüro. Auch digitale Räume unterscheiden sich von physischen.
- Sozialer Kontext: Mit wem hast du es zu tun? Eine Eigenschaft wie Humor kann im Freundeskreis wunderbar wirken – in einem formellen Meeting aber unpassend sein. Auch Hierarchien, Gruppendynamiken und Beziehungen spielen hier mit rein.
- Emotionaler Kontext: In welchem inneren Zustand bist du? Bist du entspannt oder gestresst, gut genährt oder erschöpft, offen oder angespannt? Das beeinflusst, wie du auf deine Ressourcen zugreifen kannst.
- Kultureller Kontext: Welche unausgesprochenen Normen, Werte oder Erwartungen gibt es im jeweiligen Umfeld? Was in einer Organisation als Stärke zählt, kann in einer anderen als unangemessen gelten.
All diese Kontextebenen wirken zusammen. Sie bestimmen nicht nur, wie etwas wahrgenommen wird – sondern auch, ob und wie du auf deine Stärken überhaupt zugreifen kannst. Das macht Selbstwahrnehmung und Reflexion so wichtig: Um dich selbst besser zu verstehen, hilft es oft, nicht nur dich zu betrachten – sondern das System, in dem du dich gerade bewegst.
Bewertung ist Kontextabhängig
Du kennst das vielleicht: In einem Team wirst du für deine Gründlichkeit geschätzt – im nächsten heißt es plötzlich, du seist zu detailverliebt. Oder du bringst Struktur in chaotische Prozesse – aber bei einem Start-up wirst du dafür kritisiert, nicht flexibel genug zu sein.
Eigenschaften werden nicht an sich bewertet, sondern immer im Spiegel des Umfelds.
Ein und dieselbe Eigenschaft kann mal hilfreich, mal hinderlich wirken – je nachdem, welche Werte, Ziele und Erwartungen gerade im Raum stehen.
Die Frage ist also nicht nur Was bringe ich mit?, sondern auch: Wohin bringe ich es mit?
Entfaltung braucht Raum
Alle Stärken brauchen bestimmte Rahmenbedingungen / einen bestimmten Kontext, um überhaupt zum Vorschein zu kommen. Wenn dieser nicht gegeben ist, funktioniert es nicht.
Angenommen, du bist ein super empathischer Mensch und kannst wunderbar feinfühlig auf Menschen eingehen. Bist du das auch, wenn du um 1Uhr Nachts total übermüdet angerufen wirst? Oder mitten in der Stadt im Gedränge, wenn du gerade durch eine große Menschenmenge läufst? Vermutlich nicht. Dafür ist meist ein ruhiger Ort notwendig, um nicht von allen Reizen überfordert zu werden.
Gleiches gilt für alle anderen Eigenschaften: Sie alle benötigen passende Rahmenbedingungen. Wenn die fehlen – etwa durch Stress, Lärm, Zeitdruck oder fehlenden Rückhalt – dann sieht man die Stärke vielleicht gar nicht.
Nicht, weil sie fehlt. Sondern weil sie gerade, in diesem Kontext, nicht greifen kann.
Beispiele:
Selbstbewusstsein:
Ein gewisses Maß hilft dir, dich klar zu positionieren, dich nicht kleinzumachen, Verantwortung zu übernehmen.
Zu wenig – und du wirst übersehen oder zweifelst ständig an dir.
Zu viel – und du wirkst schnell überheblich, dominant oder uneinsichtig.
Hilfsbereitschaft:
Ein Mensch, der sich für andere einsetzt, ist oft sehr geschätzt.
Aber wenn du immer hilfst – auch auf eigene Kosten – verlierst du dich selbst.
Und wenn du nie hilfst, wirkst du schnell kalt oder egoistisch.
Fazit: Stärken und Schwächen – mehr als nur Plus oder Minus
Vielleicht hast du irgendwann gelernt, dass Stärken etwas sind, worauf man stolz sein darf – und Schwächen etwas, an dem man arbeiten muss.
Aber so einfach ist die Welt nicht — das ist hoffentlich nach dem Lesen jetzt klar.
Was als Stärke gilt, kann in einem anderen Kontext zur Schwäche werden. Und umgekehrt. Jede Eigenschaft bewegt sich auf einer Skala, hat Spielraum, Richtung und Ausprägung.
Mal ist sie hilfreich. Mal steht sie im Weg.
Ob sie als positiv oder negativ wahrgenommen wird, hängt davon ab, wie du sie lebst, wie du sie dosierst – und in welchem Umfeld du dich gerade bewegst.
Du musst nicht alles können. Und du musst nicht in jeder Eigenschaft perfekt ausbalanciert haben.
Wichtiger ist, dass du dich kennst. Dass du deine Ausprägungen einschätzen kannst – und sie nicht als starre Etiketten verstehst, sondern als dynamische Werkzeuge, mit denen du arbeiten darfst.
Am Ende geht es nicht darum, deine „Schwächen loszuwerden“, sondern darum, dein eigenes Profil zu verstehen – mit all seinen Stärken, Schattierungen und Kanten.
Und wenn du das nächste mal in einem Vorstellungsgespräch sitzt und gefragt wirst “Was sind deine Stärken?”, kannst du dich freuen und antworten mit “Das ist eine komplexe Frage — das ist stark abhängig vom Kontext” 🙂
Bitte beachten, dass die Beiträge nur meine Sichtweise wiederspiegeln und ich keine Wissenschaftliche Korrektheit garantieren kann.
Solltest du Ideen und Anleitungen von mir gut finden und umzusetzen, liegt das in Ihrer eigenen Verantwortung, nicht in meiner.
Meine Beiträge ersetzen keine medizinische, psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlungen. Solltest du unter schwerwiegenden psychischen oder emotionalen Problemen leiden, empfehle ich Ihnen dringend, dass du dich an einen qualifizierten Therapeuten, Psychiater oder Arzt wendest.
Ich bin Systemischer Familientherapeut. Ich bin nicht als Psychologischer Psychotherapeut, Arzt oder Psychiater ausgebildet.
Deshalb stehen in meinen Beratungen keine psychischen Krankheiten im Fokus. Ich betrachte dich als Mensch, bei dem Krankheiten zwar vorkommen und Auswirkungen haben können, aber dein Leben ist mehr als nur Ihre Krankheit. Deine Gefühle, Familie, Freunde, Umgebung, Bewältigungsstrategien, etc. – all das wirkt sich auf dich aus. Der Fokus liegt also auf dich als Ganzes und nicht nur auf einem bestimmten Aspekt Ihres Lebens.