Ich vs. andereIst Selbstfürsorge egoistisch?
Selbstfürsorge hat es in sich: Einerseits geht es darum, sich etwas Gutes zu tun, wie zum Beispiel sich Ruhe zu gönnen oder sich gesund zu ernähren. Andererseits bedeutet Selbstfürsorge auch, sich den schwierigen und unangenehmen Dingen zu stellen, wie Grenzen zu setzen oder alte Gewohnheiten zu hinterfragen. Wie können Sie beide Seiten der Selbstfürsorge erkennen und auszubalancieren, um wirklich für sich selbst zu sorgen? Hier erfahren Sie es.
Sie kennen sicher Personen, die aus Ihrer Sicht mega egoistisch sind und nur an sich denken. Ich persönlich denke dabei gleich an einen oberkörperfreier Mann im Fitnessstudio, der gerade ein Selfie im Spiegel macht und die Muskeln posed. Sie verbinden mit “egoistisch sein” vielleicht etwas anderes. Vermutlich eher negativ behaftet sein.
Brauchen wir Egoismus?
Um Egoismus betrachten zu können, müssen wir erst mal wissen, was damit gemeint ist. Laut Duden ist der Egoismus eine “[Haltung, die gekennzeichnet ist durch das] Streben nach Erlangung von Vorteilen für die eigene Person, nach Erfüllung der die eigene Person betreffenden Wünsche ohne Rücksicht auf die Ansprüche anderer; Selbstsucht, Ichsucht, Eigenliebe”.
Also brauchen wir Egoismus? Ich würde antworten: “Kommt darauf an, was man dabei betrachtet”. Gesellschaftlich ist es klar, wir sollen für andere da sein, Egoismus ist nicht gut. Aber wenn das Verhalten keine Vorteile hätte, würde es nicht existieren. Betrachten wir es deshalb mal rein Systemisch. Also ohne Bewertung, rein aus Sicht von Systemen, mit mit Vor- und Nachteilen von bestimmten Strategien und deren Auswirkungen.
Die zwei Seiten des Egoismus
Warum zeigen Menschen überhaupt egoistisches Verhalten? Es gibt wie in vielen anderen Bereichen zwei Extrema — jedes Verhalten kann sich irgendwo dazwischen einordnen, mal eher an dem einen, mal eher am anderen Pol.
- Nur an sich denken und keine Rücksicht auf andere nehmen
- Nur an andere Menschen denken und für sie da sein, sich selbst jedoch aufgeben
Nur an sich denken
Wenn man nur an sich denkt, ist man sich seinen Bedürfnissen bewusst (zumindest teilweise). Und die (kurzfristige) Erfüllung dieser Bedürfnisse hat eine oberste Priorität. Die Umgebung / Mitmenschen sind egal, nur das kurzfristige Erfüllen der eigenen Bedürfnisse zählt.
Vorteil(e)
- Man ist sich (teilweise) seinen Bedürfnissen bewusst und setzt diese mit allen Mitteln auch durch
- Man lässt sich nicht von anderen dazu bringen, seine Bedürfnisse zu ignorieren
Nachteil(e)
- Da nur die kurzfristige Bedürfniserfüllung zählt, bleiben längerfristige Möglichkeiten außen vor. In bestimmten Situationen kann es sinnvoll sein, seine eigenen Bedürfnisse kurzfristig aufzuschieben, um damit später mehrere Bedürfnisse besser erfüllen zu können
- Je öfters man seine Bedürfnisse auf Kosten anderer erfüllt, desto seltener hat man die Möglichkeit, durch Unterstützung von anderen zu bekommen und ist mehr und mehr auf sich alleine gestellt
Nur für andere da sein
Wer nur für andere Menschen da ist, vergisst seine eigenen Bedürfnisse. Man ist sehr gut darin, die Bedürfnisse der anderen zu erfüllen, hat deswegen oft auch ein sehr hohes Ansehen bei anderen Menschen — jedoch geht es einem dabei selbst nicht gut.
Vorteil(e)
- Man hat ein sehr hohes Ansehen bei anderen Menschen, da man immer für sie da ist
- Man hat ein hohes Maß an Empathie, da einem die Bedürfnisse der anderen Menschen sehr schnell auffallen
Nachteil(e)
- Die eigenen Bedürfnisse gehen unten durch. Symbolisch betrachetet werden die anderen Motoren gepflegt und geölt, während der eigene dreckig und versandet ist
- Unterbewusst macht man gerne andere Menschen für sein eigenes Wohl verantwortlich, da man nur das Wohl der Anderen im Blick hat, nicht sein eigenes (“Nie rufst du mich an, man könnte denken, ich wäre alleine auf der Welt. Dabei tue ich doch alles für dich…”)
- Andere können einen ausnutzen und ihre Bedürfnisse erfüllen, ohne etwas zurückzugeben
Das optimale Verhalten
Es gibt in diesem Fall kein gut oder schlecht. Weder das komplette ignorieren der eigenen Bedürfnisse für andere ist gut, noch das bedingungslose Einfordern der eigenen Bedürfnisse ist gut. Es ist abhängig davon, was gerade wichtig ist.
Oberstes Ziel sollte es sein, die eigenen Bedürfnisse langfristig erfüllen zu können, um so ein gutes Leben zu haben — und auch Energie für andere. Nur wenn es einem selber gut geht, kann man andere Menschen nachhaltig unterstützen. Deswegen wird uns im Flugzeug auch folgende Reihenfolge beigebracht: Erst setzt du deine Maske auf und “Nachdem du deine eigene Maske aufgesetzt hast, kannst du anderen helfen, die Probleme bei der Verwendung haben oder nicht an ihre Maske kommen” (reisereporter.de). Wenn du davor bewusstlos wirst, kannst du niemanden mehr helfen…
Was ist jedoch der optimale Weg? Dafür gibt es keinen Leitfaden. Wenn Sie alle Ihre Bedürfnisse im Auge behalten und so gut es geht immer dafür sorgen, dass diese erfüllt werden, können Sie auch unbeschwerter längere “Durststrecken” überstehen, wo diese mal weniger erfüllt sind. Aber was gerade in der Situation das passendste ist, muss jede Person für sich entscheiden.
Wie finde ich die passendste Strategie?
Die folgenden Fragen können Ihnen helfen, um einen besseren Eindruck davon zu bekommen, ob Sie alles gut genug berücksichtigt:
- In welche Richtung geht Ihre Strategie? Eher eigene Bedürfnisse erfüllen oder für andere da sein?
- Wie und auf welche Personen wirkt sich Ihre Strategie aus?
- Ihr Bedürfnis und das der anderen Person(en) ist gleichberechtigt: Wie wichtig ist dann Ihr Bedürfnis im Vergleich zu den betroffenen Personen?
- Versuchen die anderen Personen gerade deren Verantwortung für deren Bedürfnisse bei Ihnen abzugeben?
- Versuchen Sie gerade Ihre Verantwortung für Ihre Bedürfnisse bei anderen abzugeben?
Damit dürften Sie einen besseren Überblick haben, ob Ihr derzeit ausgewählter Weg der beste ist oder auch nicht.
Egoistisch oder nicht Egoistisch — das ist hier die Frage (?)
Da ist er wieder: Der Konstruktivismus
Verhalten Sie sich demnach egoistisch oder nicht? Das kommt darauf an, wen Sie fragen. Der Begriff “Egoismus” ist ein Konstrukt einer jeden Person (siehe Konstruktivismus) — jeder Mensch stellt sich das leicht anders vor.
Genau genommen ist das auch nicht wichtig, ob eine Person Sie so bezeichnet. Es sagt nur aus, dass Person X zu dem Entschluss gekommen ist, dass Sie zu viel auf sich und zu wenig auf andere schauen. Das ist höchst subjektiv. Teilen Sie diese Perspektive?
Meine Perspektive
Auch meine Perspektive ist nicht höher gewichtet als die von anderen Personen — sie ist auch ein Konstrukt. Aber vielleicht können Sie damit etwas anfangen.
Ich persönlich finde es verdammt schwer zu sagen, wann Selbstfürsorge aufhört und wann Egoismus anfängt. Manche Menschen sagen schon, ich sei egoistisch, wenn ich nicht auf eine Feier gehe, da es mir nicht gut geht. Das ist deren Perspektive… nur nicht meine. Andererseits möchte ich natürlich keinen Freifahrtschein haben, ab jetzt ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer zu handeln und nur noch auf mich zu schauen.
Kurzfristig kann es eventuell sinnvoll sein, in die “Red Zone” zu gehen und Absolut “Egoistisch” oder “Selbstlos” zu agieren — wenn das wirklich nur kurzfristig bleibt. Ansonsten sind die Auswirkungen zu gravierend.
Meine finalen Worte
Kümmern Sie sich im Rahmen des Möglichen gleichberechtigt um andere wie um sich selbst.
- Bedürfnisse
- Egoismus
- Empathie
- Strategie
Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Beiträge nur meine Sichtweise wiederspiegeln und ich keine Wissenschaftliche Korrektheit garantieren kann.
Sollten Sie Ideen und Anleitungen von mir gut finden und umzusetzen, liegt das in Ihrer eigenen Verantwortung, nicht in meiner.
Meine Beiträge ersetzen keine medizinische, psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlungen. Sollten Sie unter schwerwiegenden psychischen oder emotionalen Problemen leiden, empfehle ich Ihnen dringend, dass Sie sich an einen qualifizierten Therapeuten, Psychiater oder Arzt wenden.
Ich bin Systemischer Berater, mit (noch nicht abgeschlossener) Weiterbildung zum Systemischen Familientherapeuten. Ich bin nicht als Psychologischer Psychotherapeut, Arzt oder Psychiater ausgebildet.
Deshalb stehen in meinen Beratungen keine psychischen Krankheiten im Fokus. Ich betrachte Sie als Mensch, bei dem Krankheiten zwar vorkommen und Auswirkungen haben können, aber Ihr Leben ist mehr als nur Ihre Krankheit. Ihre Gefühle, Familie, Freunde, Umgebung, Bewältigungsstrategien, etc. – all das wirkt sich auf Sie aus. Der Fokus liegt also auf Ihnen als Ganzes und nicht nur auf einem bestimmten Aspekt Ihres Lebens.