Ich vs. andere
Ist Selbstfürsorge egoistisch?

Selb­st­für­sorge hat es in sich: Ein­er­seits geht es darum, sich etwas Gutes zu tun, wie zum Beispiel sich Ruhe zu gön­nen oder sich gesund zu ernähren. Ander­er­seits bedeutet Selb­st­für­sorge auch, sich den schwieri­gen und unan­genehmen Din­gen zu stellen, wie Gren­zen zu set­zen oder alte Gewohn­heit­en zu hin­ter­fra­gen. Wie kön­nen Sie bei­de Seit­en der Selb­st­für­sorge erken­nen und auszubal­ancieren, um wirk­lich für sich selb­st zu sor­gen? Hier erfahren Sie es.

Beitrag erstellt: 29.7.2023 | Zuletzt modifiziert: 4.9.2024

Sie ken­nen sich­er Per­so­n­en, die aus Ihrer Sicht mega ego­is­tisch sind und nur an sich denken. Ich per­sön­lich denke dabei gle­ich an einen oberkör­per­freier Mann im Fit­nessstu­dio, der ger­ade ein Self­ie im Spiegel macht und die Muskeln posed. Sie verbinden mit “ego­is­tisch sein” vielle­icht etwas anderes. Ver­mut­lich eher neg­a­tiv behaftet sein.

Brauchen wir Egoismus?

Um Ego­is­mus betra­cht­en zu kön­nen, müssen wir erst mal wis­sen, was damit gemeint ist. Laut Duden ist der Ego­is­mus eine “[Hal­tung, die gekennze­ich­net ist durch das] Streben nach Erlan­gung von Vorteilen für die eigene Per­son, nach Erfül­lung der die eigene Per­son betr­e­f­fend­en Wün­sche ohne Rück­sicht auf die Ansprüche ander­er; Selb­st­sucht, Ich­sucht, Eigen­liebe”.

Also brauchen wir Ego­is­mus? Ich würde antworten: “Kommt darauf an, was man dabei betra­chtet”. Gesellschaftlich ist es klar, wir sollen für andere da sein, Ego­is­mus ist nicht gut. Aber wenn das Ver­hal­ten keine Vorteile hätte, würde es nicht existieren. Betra­cht­en wir es deshalb mal rein Sys­temisch. Also ohne Bew­er­tung, rein aus Sicht von Sys­te­men, mit mit Vor- und Nachteilen von bes­timmten Strate­gien und deren Auswirkun­gen.

Die zwei Seiten des Egoismus

Warum zeigen Men­schen über­haupt ego­is­tis­ches Ver­hal­ten? Es gibt wie in vie­len anderen Bere­ichen zwei Extrema — jedes Ver­hal­ten kann sich irgend­wo dazwis­chen einord­nen, mal eher an dem einen, mal eher am anderen Pol.

  1. Nur an sich denken und keine Rück­sicht auf andere nehmen
  2. Nur an andere Men­schen denken und für sie da sein, sich selb­st jedoch aufgeben

Nur an sich denken

Wenn man nur an sich denkt, ist man sich seinen Bedürfnis­sen bewusst (zumin­d­est teil­weise). Und die (kurzfristige) Erfül­lung dieser Bedürfnisse hat eine ober­ste Pri­or­ität. Die Umge­bung / Mit­men­schen sind egal, nur das kurzfristige Erfüllen der eige­nen Bedürfnisse zählt.

Vorteil(e)

  • Man ist sich (teil­weise) seinen Bedürfnis­sen bewusst und set­zt diese mit allen Mit­teln auch durch
  • Man lässt sich nicht von anderen dazu brin­gen, seine Bedürfnisse zu ignori­eren

Nachteil(e)

  • Da nur die kurzfristige Bedürfnis­er­fül­lung zählt, bleiben länger­fristige Möglichkeit­en außen vor. In bes­timmten Sit­u­a­tio­nen kann es sin­nvoll sein, seine eige­nen Bedürfnisse kurzfristig aufzuschieben, um damit später mehrere Bedürfnisse bess­er erfüllen zu kön­nen
  • Je öfters man seine Bedürfnisse auf Kosten ander­er erfüllt, desto sel­tener hat man die Möglichkeit, durch Unter­stützung von anderen zu bekom­men und ist mehr und mehr auf sich alleine gestellt

Nur für andere da sein

Wer nur für andere Men­schen da ist, ver­gisst seine eige­nen Bedürfnisse. Man ist sehr gut darin, die Bedürfnisse der anderen zu erfüllen, hat deswe­gen oft auch ein sehr hohes Anse­hen bei anderen Men­schen — jedoch geht es einem dabei selb­st nicht gut.

Vorteil(e)

  • Man hat ein sehr hohes Anse­hen bei anderen Men­schen, da man immer für sie da ist
  • Man hat ein hohes Maß an Empathie, da einem die Bedürfnisse der anderen Men­schen sehr schnell auf­fall­en

Nachteil(e)

  • Die eige­nen Bedürfnisse gehen unten durch. Sym­bol­isch betra­chetet wer­den die anderen Motoren gepflegt und geölt, während der eigene dreck­ig und ver­sandet ist
  • Unter­be­wusst macht man gerne andere Men­schen für sein eigenes Wohl ver­ant­wortlich, da man nur das Wohl der Anderen im Blick hat, nicht sein eigenes (“Nie ruf­st du mich an, man kön­nte denken, ich wäre alleine auf der Welt. Dabei tue ich doch alles für dich…”)
  • Andere kön­nen einen aus­nutzen und ihre Bedürfnisse erfüllen, ohne etwas zurück­zugeben

Das optimale Verhalten

Es gibt in diesem Fall kein gut oder schlecht. Wed­er das kom­plette ignori­eren der eige­nen Bedürfnisse für andere ist gut, noch das bedin­gungslose Ein­fordern der eige­nen Bedürfnisse ist gut. Es ist abhängig davon, was ger­ade wichtig ist.

Ober­stes Ziel sollte es sein, die eige­nen Bedürfnisse langfristig erfüllen zu kön­nen, um so ein gutes Leben zu haben — und auch Energie für andere. Nur wenn es einem sel­ber gut geht, kann man andere Men­schen nach­haltig unter­stützen. Deswe­gen wird uns im Flugzeug auch fol­gende Rei­hen­folge beige­bracht: Erst set­zt du deine Maske auf und “Nach­dem du deine eigene Maske aufge­set­zt hast, kannst du anderen helfen, die Prob­leme bei der Ver­wen­dung haben oder nicht an ihre Maske kom­men” (reisereporter.de). Wenn du davor bewusst­los wirst, kannst du nie­man­den mehr helfen…

Was ist jedoch der opti­male Weg? Dafür gibt es keinen Leit­faden. Wenn Sie alle Ihre Bedürfnisse im Auge behal­ten und so gut es geht immer dafür sor­gen, dass diese erfüllt wer­den, kön­nen Sie auch unbeschw­ert­er län­gere “Durst­streck­en” über­ste­hen, wo diese mal weniger erfüllt sind. Aber was ger­ade in der Sit­u­a­tion das passend­ste ist, muss jede Per­son für sich entschei­den.

Wie finde ich die passendste Strategie?

Die fol­gen­den Fra­gen kön­nen Ihnen helfen, um einen besseren Ein­druck davon zu bekom­men, ob Sie alles gut genug berück­sichtigt:

  • In welche Rich­tung geht Ihre Strate­gie? Eher eigene Bedürfnisse erfüllen oder für andere da sein?
  • Wie und auf welche Per­so­n­en wirkt sich Ihre Strate­gie aus?
  • Ihr Bedürf­nis und das der anderen Person(en) ist gle­ich­berechtigt: Wie wichtig ist dann Ihr Bedürf­nis im Ver­gle­ich zu den betrof­fe­nen Per­so­n­en?
  • Ver­suchen die anderen Per­so­n­en ger­ade deren Ver­ant­wor­tung für deren Bedürfnisse bei Ihnen abzugeben?
  • Ver­suchen Sie ger­ade Ihre Ver­ant­wor­tung für Ihre Bedürfnisse bei anderen abzugeben?

Damit dürften Sie einen besseren Überblick haben, ob Ihr derzeit aus­gewählter Weg der beste ist oder auch nicht.

Egoistisch oder nicht Egoistisch — das ist hier die Frage (?)

Da ist er wieder: Der Konstruktivismus

Ver­hal­ten Sie sich dem­nach ego­is­tisch oder nicht? Das kommt darauf an, wen Sie fra­gen. Der Begriff “Ego­is­mus” ist ein Kon­strukt ein­er jeden Per­son (siehe Kon­struk­tivis­mus) — jed­er Men­sch stellt sich das leicht anders vor.

Genau genom­men ist das auch nicht wichtig, ob eine Per­son Sie so beze­ich­net. Es sagt nur aus, dass Per­son X zu dem Entschluss gekom­men ist, dass Sie zu viel auf sich und zu wenig auf andere schauen. Das ist höchst sub­jek­tiv. Teilen Sie diese Per­spek­tive?

Meine Perspektive

Auch meine Per­spek­tive ist nicht höher gewichtet als die von anderen Per­so­n­en — sie ist auch ein Kon­strukt. Aber vielle­icht kön­nen Sie damit etwas anfan­gen.

Ich per­sön­lich finde es ver­dammt schw­er zu sagen, wann Selb­st­für­sorge aufhört und wann Ego­is­mus anfängt. Manche Men­schen sagen schon, ich sei ego­is­tisch, wenn ich nicht auf eine Feier gehe, da es mir nicht gut geht. Das ist deren Per­spek­tive… nur nicht meine. Ander­er­seits möchte ich natür­lich keinen Freifahrtschein haben, ab jet­zt ohne Rück­sicht auf die Bedürfnisse ander­er zu han­deln und nur noch auf mich zu schauen.

Kurzfristig kann es eventuell sin­nvoll sein, in die “Red Zone” zu gehen und Abso­lut “Ego­is­tisch” oder “Selb­st­los” zu agieren — wenn das wirk­lich nur kurzfristig bleibt. Anson­sten sind die Auswirkun­gen zu gravierend.

Meine finalen Worte

Küm­mern Sie sich im Rah­men des Möglichen gle­ich­berechtigt um andere wie um sich selb­st.

  • Bedürfnisse
  • Egoismus
  • Empathie
  • Strategie

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